Aufklärung
Immanuel Kant schrieb 1784:
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“
Quelle: Wikipedia, 4. Januar 2024
Dieses Zitat birgt viel Weisheit - auch in einer modernen, digitalen Welt.
Tl;dr
- Der Mensch ist durch Vorstellungskraft, Verstand und die Fähigkeit, komplexe Gedanken zu denken, in der Lage, vielfältige Probleme selbstständig zu lösen.
- Diese Fähigkeit hat uns als Menschheit erst an den Punkt der Moderne gebracht, in der Wissenschaft und Technik vieles möglich machen, was noch vor hundert Jahren undenkbar war.
- Aber: Digitale Assistenten nehmen uns unsere Selbstständigkeit und verändern damit unsere Fähigkeit, Probleme selbst lösen zu können.
- Die Lösung ist es, bewusst wieder mehr selbst zu denken.
Der Problemlöser
Der Mensch ist von Natur aus und durch langwierige, evolutionäre Prozesse in die Lage versetzt worden, sich komplexe Sachverhalte in seiner Imagination vorstellen zu können. Diese Vorstellungskraft erlaubt es uns, die Folgen unseres Handelns vorherzusehen und entsprechend anzupassen und agieren zu können.
Diese Fähigkeit, gepaart mit zunehmend besser werdender Koordination durch Sprache, Schrift, Bilder und komplexere Notationen (wie der Mathematik), haben Wissenschaft erst möglich gemacht. Die wissenschaftliche Methode - also das Benennen von Hypothesen und Durchführen von Experimenten, um sie empirisch zu widerlegen oder zu bestätigen - haben den technischen Fortschritt der Moderne erst möglich gemacht.
Vor 150-200 Jahren lag die Sterblichkeit von Kindern bis zum fünften Lebensjahr bei 50% - jedes zweite Kind starb, bevor es fünf wurde. Heute sind wir in der Lage, gezielt Gene zu editieren, ganze Organe zu ersetzen, in den Weltraum zu fliegen und flüssige Dialoge mit Menschen zu führen, die eine andere Sprache sprechen, der wir nicht mächtig sind - dank synchroner Übersetzung, sogar in der Stimme der Gesprächspartner:in.
Es gibt eine Vielzahl solcher digitalen Assistenzsysteme:
- Digitale Landkarten helfen uns, in einer fremden Stadt zu navigieren, ohne dass wir Karten überhaupt lesen können oder nach dem Weg fragen müssen.
- Online-Übersetzer erlauben uns, fremde Sprachen in Bild und Text zu verstehen, ohne dass wir sie lernen müssen.
- Kalender und deren eingebaute Assistenten erinnern uns an Termine und Verpflichtungen und können sogar vorhersagen, wann wir aufbrechen müssen, um pünktlich zu sein - vollständig dynamisch anhand der Verkehrssituation, bevorzugter Verkehrsmittel und Gewohnheiten usw.
- u. v. a. m.
Aber diese digitalen Assistenzsysteme haben auch eine Schattenseite.
Bequemlichkeit als Antagonist
Eine der Eigenschaften unseres vergleichsweise großen Hirns ist die Tatsache, dass es sehr viel Energie verbraucht, ca. 20-30% der aufgenommenen Kalorien. Entsprechend haben sich Denkmuster entwickelt, die dabei helfen, möglichst wenig Energie zu verbrennen, wenn es nicht nötig ist. Daniel Kahnemann hat in seinem Buch “Thinking, fast and slow” sehr anschaulich darüber geschrieben, wie unser Denken in grob zwei Kategorien fällt:
- Schnelles Denken: anhand von Intuition und Mustererkennung, schnell, kostet wenig Energie, ist aber fehleranfällig
- Langsames Denken: gründlich und langsam, sehr zuverlässig, kostet aber viel Energie
Die meisten Entscheidungen treffen wir in der ersten Kategorie. Das bedeutet jedoch auch, dass wir systematisch Fehler machen - vgl. die Liste der “cognitive biases” auf Wikipedia.
Viel wichtiger ist jedoch, dass das “Energie sparen” ebenfalls eingebaut ist. Wir fallen automatisch in die erste Variante, wenn es nicht notwendig ist, etwas gründlich zu durchdenken. Einfach, weil es bequemer ist. Und das hat weitreichende Konsequenzen für unser Verhalten:
- Bequemlichkeit kommt vor Rationalität
Wenn wir einen Weg haben (oder finden), der uns auf bequeme Art und Weise eine Lösung bietet, werden wir ihm folgen. Einfach, weil Nachdenken anstrengend ist und Energie kostet. Die Evolution hat uns mitgegeben, dass wir nicht gern gründlich nachdenken, wenn es nicht nötig ist. Es kostet also eine bewusste Willensanstrengung, sich zum Nachdenken zu entschließen und es dann auch zu tun!
Diese Bequemlichkeit machen sich heutzutage bspw. die digitalen Großkonzerne zu Nutze:
- Es ist bequem, auf die Produktempfehlungen von Amazon zu vertrauen (obwohl sie teurer sind und vielleicht nicht exakt unseren Ansprüchen entsprechen), statt selbst zu recherchieren, welche Produkte geeignet und ihren Preis wert sind.
- Es ist bequem, auf die Navigation in Google Maps zu vertrauen und einfach den Anweisungen zu folgen, statt selbst auf einer Karte nach einem Weg zu suchen und sich gegen Alternativen zu entscheiden.
- Es ist bequem, die Nachrichten zu konsumieren, die auf Algorithmen-getriebenen News-Plattformen angezeigt werden, statt sich selbst eine objektive Auswahl zusammenzustellen - auch wenn es bedeutet, dass man nur Nachrichten sieht, die den eigenen Ansichten und Erwartungen entsprechen.
Und es gibt eine Vielzahl weiterer Beispiele im täglichen Leben einer digitalisierten Gesellschaft.
Konsequenzen der Bequemlichkeit
In dem Moment, in dem wir uns den digitalen Systemen anvertrauen und unkritisch annehmen, was sie uns liefern, akzeptieren wir, dass wir die Kontrolle über unser Denken an die digitalen Konzerne abgeben. Wir haben den Pfad der Aufklärung verlassen.
Bezogen auf die Beispiele oben hat das Konsequenzen:
- Marktplätze: Man kann einwenden, dass die Produktempfehlungen wirklich gut seien und genau das, was man wolle. Was man dabei verdrängt, ist die Tatsache, dass die Motivation eines Marktplatzes das Verkaufen von Produkten ist - nicht das Eingehen auf individuelle Bedürfnisse und Gegebenheiten. D. h. es wird immer Abweichungen geben, wo das Ziel und die Motivation der Plattformen eben nicht dem persönlichen Wunsch entspricht. Stattdessen wird man animiert, mehr zu konsumieren und Dinge zu konsumieren, die man eigentlich nicht braucht.
- Navigation: Ein weiterer Effekt ist, dass wir faktisch viele Dinge verlernen. Wenn ich für jede Navigationsaufgabe Google Maps verwende, bin ich am Ende nicht mehr in der Lage, mich selbst zu orientieren - bspw. anhand von Landmarken, Strassennamen und Himmelsrichtungen. Das ist, gerade in Städten, häufig sehr einfach, weil es viele Orientierungspunkte gibt. Aber es ist eine Kulturtechnik, die ohne Nutzung verkümmert.
- Politische Manipulation: Außerdem wird unser Weltbild maßgeblich von den Informationsquellen beeinflusst, die wir konsumieren. Jeder Mensch konstruiert in seinem Geist ein Bild der Welt. Und die Bausteine dafür sind die Informationen, die wir a) über direkte Erfahrung mit Hilfe unserer Sinne oder b) mittelbar über Medien wie Nachrichten, Fernsehen und Social Media aufnehmen. Wenn diese Informationen jedoch durch Algorithmen vorselektiert werden, wird mein Weltbild davon beeinflusst und einseitig geprägt. Es ist keine “objektive” Sicht auf die Welt, sondern höchst “subjektiv” - allerdings nicht durch eine bewusste Auswahl der Informationsquelle durch mich selbst, sondern durch eine Automatisierung, deren Ziel es eben nicht ist, mich gut zu informieren, sondern meine Aufmerksamkeit möglichst lang auf der jeweiligen Plattform zu halten, um die Werbeeinnahmen zu maximieren. Und das sind oft Nachrichten, die starke Emotionen schüren: Empörung, Wut, Abscheu und all die anderen Facetten der Negativität.
Zusammengefasst: Wenn wir aus Bequemlichkeit unsere Initiative an Algorithmen und Plattformen abgeben, bekommen wir deren Agenda statt unserer eigenen.
Überlegen macht überlegen
Doch was kann man tun? Die folgerichtige Antwort muss heißen: Selber denken. Und als ersten Schritt: Sich darüber klar werden, wo man selbst schon in solchen Abhängigkeitsverhältnissen steckt. Wenn man das weiß, kann man anfangen, sich von einzelnen Szenarien zu lösen und gezielt mehr Selbstständigkeit aufzubauen.
Kleine Dinge, die man im Alltag tun kann:
- Orientierung ohne Google Maps in einer neuen Stadt: Man sucht sich vorab auf einer Landkarte den Weg heraus und notiert sich Landmarken auf dem Weg: “rechts an der Kirche vorbei, dann die zweite Strasse links”. Und wenn man sich nicht zurecht findet, fragt man einfach eine(n) Passant:in.
- Termine handschriftlich in einem Papierkalender festhalten statt im digitalen Kalender mit Erinnerungsfunktion. Dazu die Gewohnheit aufbauen, jeden Morgen einmal reinzuschauen.
- Früh aufstehen lernen durch Suggestion: Wenn man abends ins Bett geht, mehrfach sich selbst einreden, dass man um sieben Uhr aufwachen will - sich vorstellen, wie es ist, wenn man um sieben Uhr aufwacht und auf die Uhr schaut. Mit etwas Übung wacht man von selbst um die gewünschte Zeit auf. Das setzt natürlich voraus, dass man auch früh genug ins Bett geht.
Fazit: Das digitale Zeitalter durchläuft eine Art Anti-Aufklärung, in der wir als Menschheit unsere Selbstständigkeit verlieren. Dieser Verlust bedeutet Abhängigkeit und Unmündigkeit. Aber wir können selbst etwas dagegen tun, indem wir uns von dieser Abhängigkeit emanzipieren und wieder mehr selbst denken.