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January 3, 2024

Aufklärung

Immanuel Kant schrieb 1784:

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“

Quelle: Wikipedia, 4. Januar 2024

Dieses Zitat birgt viel Weisheit - auch in einer modernen, digitalen Welt.

Tl;dr

Der Problemlöser

Der Mensch ist von Natur aus und durch langwierige, evolutionäre Prozesse in die Lage versetzt worden, sich komplexe Sachverhalte in seiner Imagination vorstellen zu können. Diese Vorstellungskraft erlaubt es uns, die Folgen unseres Handelns vorherzusehen und entsprechend anzupassen und agieren zu können.

Diese Fähigkeit, gepaart mit zunehmend besser werdender Koordination durch Sprache, Schrift, Bilder und komplexere Notationen (wie der Mathematik), haben Wissenschaft erst möglich gemacht. Die wissenschaftliche Methode - also das Benennen von Hypothesen und Durchführen von Experimenten, um sie empirisch zu widerlegen oder zu bestätigen - haben den technischen Fortschritt der Moderne erst möglich gemacht.

Vor 150-200 Jahren lag die Sterblichkeit von Kindern bis zum fünften Lebensjahr bei 50% - jedes zweite Kind starb, bevor es fünf wurde. Heute sind wir in der Lage, gezielt Gene zu editieren, ganze Organe zu ersetzen, in den Weltraum zu fliegen und flüssige Dialoge mit Menschen zu führen, die eine andere Sprache sprechen, der wir nicht mächtig sind - dank synchroner Übersetzung, sogar in der Stimme der Gesprächspartner:in.

Es gibt eine Vielzahl solcher digitalen Assistenzsysteme:

Aber diese digitalen Assistenzsysteme haben auch eine Schattenseite.

Bequemlichkeit als Antagonist

Eine der Eigenschaften unseres vergleichsweise großen Hirns ist die Tatsache, dass es sehr viel Energie verbraucht, ca. 20-30% der aufgenommenen Kalorien. Entsprechend haben sich Denkmuster entwickelt, die dabei helfen, möglichst wenig Energie zu verbrennen, wenn es nicht nötig ist. Daniel Kahnemann hat in seinem Buch “Thinking, fast and slow” sehr anschaulich darüber geschrieben, wie unser Denken in grob zwei Kategorien fällt:

Die meisten Entscheidungen treffen wir in der ersten Kategorie. Das bedeutet jedoch auch, dass wir systematisch Fehler machen - vgl. die Liste der “cognitive biases” auf Wikipedia.

Viel wichtiger ist jedoch, dass das “Energie sparen” ebenfalls eingebaut ist. Wir fallen automatisch in die erste Variante, wenn es nicht notwendig ist, etwas gründlich zu durchdenken. Einfach, weil es bequemer ist. Und das hat weitreichende Konsequenzen für unser Verhalten:

Wenn wir einen Weg haben (oder finden), der uns auf bequeme Art und Weise eine Lösung bietet, werden wir ihm folgen. Einfach, weil Nachdenken anstrengend ist und Energie kostet. Die Evolution hat uns mitgegeben, dass wir nicht gern gründlich nachdenken, wenn es nicht nötig ist. Es kostet also eine bewusste Willensanstrengung, sich zum Nachdenken zu entschließen und es dann auch zu tun!

Diese Bequemlichkeit machen sich heutzutage bspw. die digitalen Großkonzerne zu Nutze:

Und es gibt eine Vielzahl weiterer Beispiele im täglichen Leben einer digitalisierten Gesellschaft.

Konsequenzen der Bequemlichkeit

In dem Moment, in dem wir uns den digitalen Systemen anvertrauen und unkritisch annehmen, was sie uns liefern, akzeptieren wir, dass wir die Kontrolle über unser Denken an die digitalen Konzerne abgeben. Wir haben den Pfad der Aufklärung verlassen.

Bezogen auf die Beispiele oben hat das Konsequenzen:

  1. Marktplätze: Man kann einwenden, dass die Produktempfehlungen wirklich gut seien und genau das, was man wolle. Was man dabei verdrängt, ist die Tatsache, dass die Motivation eines Marktplatzes das Verkaufen von Produkten ist - nicht das Eingehen auf individuelle Bedürfnisse und Gegebenheiten. D. h. es wird immer Abweichungen geben, wo das Ziel und die Motivation der Plattformen eben nicht dem persönlichen Wunsch entspricht. Stattdessen wird man animiert, mehr zu konsumieren und Dinge zu konsumieren, die man eigentlich nicht braucht.
  2. Navigation: Ein weiterer Effekt ist, dass wir faktisch viele Dinge verlernen. Wenn ich für jede Navigationsaufgabe Google Maps verwende, bin ich am Ende nicht mehr in der Lage, mich selbst zu orientieren - bspw. anhand von Landmarken, Strassennamen und Himmelsrichtungen. Das ist, gerade in Städten, häufig sehr einfach, weil es viele Orientierungspunkte gibt. Aber es ist eine Kulturtechnik, die ohne Nutzung verkümmert.
  3. Politische Manipulation: Außerdem wird unser Weltbild maßgeblich von den Informationsquellen beeinflusst, die wir konsumieren. Jeder Mensch konstruiert in seinem Geist ein Bild der Welt. Und die Bausteine dafür sind die Informationen, die wir a) über direkte Erfahrung mit Hilfe unserer Sinne oder b) mittelbar über Medien wie Nachrichten, Fernsehen und Social Media aufnehmen. Wenn diese Informationen jedoch durch Algorithmen vorselektiert werden, wird mein Weltbild davon beeinflusst und einseitig geprägt. Es ist keine “objektive” Sicht auf die Welt, sondern höchst “subjektiv” - allerdings nicht durch eine bewusste Auswahl der Informationsquelle durch mich selbst, sondern durch eine Automatisierung, deren Ziel es eben nicht ist, mich gut zu informieren, sondern meine Aufmerksamkeit möglichst lang auf der jeweiligen Plattform zu halten, um die Werbeeinnahmen zu maximieren. Und das sind oft Nachrichten, die starke Emotionen schüren: Empörung, Wut, Abscheu und all die anderen Facetten der Negativität.

Zusammengefasst: Wenn wir aus Bequemlichkeit unsere Initiative an Algorithmen und Plattformen abgeben, bekommen wir deren Agenda statt unserer eigenen.

Überlegen macht überlegen

Doch was kann man tun? Die folgerichtige Antwort muss heißen: Selber denken. Und als ersten Schritt: Sich darüber klar werden, wo man selbst schon in solchen Abhängigkeitsverhältnissen steckt. Wenn man das weiß, kann man anfangen, sich von einzelnen Szenarien zu lösen und gezielt mehr Selbstständigkeit aufzubauen.

Kleine Dinge, die man im Alltag tun kann:

Fazit: Das digitale Zeitalter durchläuft eine Art Anti-Aufklärung, in der wir als Menschheit unsere Selbstständigkeit verlieren. Dieser Verlust bedeutet Abhängigkeit und Unmündigkeit. Aber wir können selbst etwas dagegen tun, indem wir uns von dieser Abhängigkeit emanzipieren und wieder mehr selbst denken.